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Politblog 8.5.2014 Falls Sie beim Mindestlohn zögern Im Verlauf der letzten paar Wochen habe ich mehrere Personen angetroffen, die sich noch nicht entscheiden konnten, ob sie zur Mindestlohninitiative ein Ja oder ein Nein einlegen sollen. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner führen bestimmte Argumente ins Feld. Auf der Ja-Seite sind es deren zwei: Erstens finden sie es stossend, dass eine erwachsene Person, die einer regelmässigen, bezahlten Arbeit nachgeht, dafür pro Monat weniger als 4000 Franken erhält (berechnet auf eine Vollzeitstelle). Ein Salär von 3000 oder 3500 Franken, wie es da und dort immer noch üblich ist, reicht heute kaum mehr aus, um eine Familie zu ernähren. Das treibt zahlreiche Personen in die Sozialhilfe (Phänomen der Working Poor). Letztlich ist es dann der Steuerzahler, der das fehlende Einkommen über die Sozialhilfe finanziert. Zweitens sind meine Gesprächspartner verärgert über den Geiz, den gewisse Arbeitgeber an den Tag legen. Man diskutiert zwar schon seit Jahren hin und her, trotzdem erhalten 10 Prozent der Arbeitnehmer immer noch Löhne, die brutto unter den von der Initiative eingeforderten 22 Franken pro Stunde liegen. Auch wenn in der letzten Zeit ein paar dieser hartnäckigen Arbeitgeber unter dem Druck der Initiative nachgebessert haben, verbleiben in der Schweiz immer noch 400’000 Personen in dieser Situation. Auf der Nein-Seite werden folgende drei Befürchtungen angeführt: 1. Es gibt schlecht qualifizierte oder eventuell behinderte Arbeitnehmer, deren Produktivität nicht ausreicht, um einen Lohn von 4000 Franken zu rechtfertigen. Meine Gesprächspartner befürchten, dass die entsprechenden Stellen wegen mangelnder Rentabilität schlicht und ergreifend gestrichen würden. 2. Sie befürchten, dass sich ein Mindestlohn von 4000 Franken auf doppelte Weise negativ auf die Jungen auswirkt: Die Jungen, die noch kaum über Berufserfahrung verfügen und keine Ausbildung vorweisen können, würden die geforderte Produktivität nicht erreichen und deshalb gar nicht erst angestellt. Oder – was ein wenig widersprüchlich erscheinen mag – sie würden von der Schule abgehen und dann lieber einen Handlanger-Job für 22 Franken die Stunde machen als eine Lehre, die ihnen langfristig die besseren Perspektiven bieten würde. 3. In bestimmten Bereichen könnte es sich als schwierig erweisen, den entsprechenden Lohn aufzubringen, wenigstens kurzfristig. Oft denken meine Gesprächspartner hier an die Landwirtschaft und an bestimmte Berufsgattungen im informellen Sektor oder im Verbandswesen. Leuten, die noch unentschlossen sind, empfehle ich, den Initiativtext zu lesen. Die Gewerkschaften sind sich über die Wirklichkeit in der Arbeitswelt im Klaren, gerade deswegen haben sie ihre Initiative klug formuliert. Die Initiative sieht folgendes vor: «Der Bund kann für besondere Arbeitsverhältnisse Ausnahmeregelungen erlassen» (Artikel 110, Absatz 3) und «die Ausnahmeregelungen und die Anpassungen (…) werden unter Mitwirkung der Sozialpartner erlassen» (Absatz 5). Diese Vorgaben lassen die Möglichkeit offen, für junge Arbeitnehmer ohne jegliche Ausbildung, für Lohnbezüger, deren Produktivität aufgrund besonderer Umstände eingeschränkt ist oder für Praktikanten/Lehrlinge ein tieferes Lohnniveau festzusetzen. Sie erlauben es, besondere Umstände angemessen zu berücksichtigen, etwa die saisonal bedingten Anstellungen in der Landwirtschaft. Diese Ausnahmen müssten aber besprochen und begründet werden – das wäre das mindeste. Die Initiative wird sich alles in allem günstig auf das untere Lohnsegment auswirken und ganz allgemein zu einem besseren Gleichgewicht in der Gesellschaft beitragen. Dieses Gleichgewicht ist Voraussetzung für den sozialen Frieden. Ich jedenfalls werde ohne zu zögern ein JA einlegen.
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Contact: Roger Nordmann, Rue de l'Ale 25, 1003 Lausanne, Twitter @NordmannRoger 1.04.2017 |