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Roger Nordmann

Conseiller national

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25.10.2013  politblog

Schweiz-Europa: auf der Suche nach der verlorenen Souveränität

 Seit mehr als 20 Jahren sind die Fronten der Europadebatte in der Schweiz klar abgesteckt: auf der einen Seite die Europabefürworter, auf der anderen die Europagegner und dazwischen die Anhänger des Kurses, den der Bundesrat verfolgt. Die Langsamkeit, mit der die Bilateralen umgesetzt werden, hat die Debatte in einer Art politischem Patt erstarren lassen. Wird diese Situation Bestand haben? Zweifel sind angebracht, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen.

Erstens – die Europäische Union hat sich von Grund auf verändert. Sie wurde von 12 auf 28 Mitgliedstaaten aufgestockt und hat ihren Einflussbereich erheblich ausgeweitet: Einführung einer Zusammenarbeit bei Polizei und Justiz, allmähliches Herausbilden einer Aussenpolitik und einer gemeinsamen Verteidigung, Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments, Einführung und Konsolidierung des Euros, Bankenrettung, Bildung einer Bankenunion etc. Die Finanzkrise stellt Europa zwar vor eine Zerreissprobe, gleichzeitig trägt sie aber auch zu dessen Stärkung bei.

Zweitens – trotz des Abstimmungsresultats von 1992 und der Opposition der Nationalisten hat sich die Schweiz eng an die Europäische Union angebunden. Mit der heute praktizierten Personenfreizügigkeit, der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Polizei, Transport, Geldpolitik, Steuerwesen, wissenschaftliche Forschung und vielen weiteren Bereichen sind wir viel stärker integriert, als wir es mit einem Beitritt zum EWR 1993 gewesen wären.

Nach der Abstimmung 1992 konzentrierte sich der Bundesrat konsequent auf den bilateralen Weg. Es ging darum, die unumgängliche Annäherung an Europa zu gestalten, ohne Abstriche an der zwingend geforderten Souveränität machen zu müssen. Heute allerdings stellen der materielle und geographische Umfang, den die Europäische Union angenommen hat, und die engen Verknüpfungen zwischen der Schweiz und Europa diese zwingende Forderung grundlegend in Frage. Die bilateralen Abkommen beruhen ganz klar auf einer Übernahme des europäischen Rechts, das für den jeweiligen Bereich gilt. Die inzwischen auf 28 Staaten – von denen einige ganz erhebliche Anstrengungen auf sich nehmen mussten, um den Beitritt vollziehen zu können – angewachsene Europäische Union ist nicht mehr gewillt, der Schweiz Ausnahmeregelungen zuzugestehen. Sie erwartet vom Bund eine umfassende Anwendung des europäischen Rechts in jenen Bereichen, die Gegenstand der bilateralen Abkommen bilden. Diese Forderung beinhaltet eine Übernahme der Rechtssprechung, mit anderen Worten: das Akzeptieren der Urteile, die der Europäische Gerichtshof fällt. Die Union möchte diese Regeln in einem institutionellen Abkommen festschreiben und macht das Abkommen zu einer Bedingung für ein Weiterverfolgen des bilateralen Wegs. Aus Sicht der Union soll vermieden werden, dass sich die Schweiz «à la carte» und ohne Gegenleistung beim europäischen Recht bedient.

Gleichzeitig wird die Debatte von den Mitte-Rechts-Parteien unterlaufen, welche die Bevölkerung mit der Aussage zu beruhigen versuchen, es seien gerade die bilateralen Abkommen, welche die Autonomie der Schweiz bewahren würden. Fahnenschwinger mit Schweizer- und Europa-Fahnen, aufgenommen auf dem Maennlichen bei Grindelwald (BE), August 1999. (KEYSTONE/Martin Ruetschi) Fahnenschwinger mit einer Schweiz- und einer Europafahne, August 1999. (Symbolbild: Keystone/Martin Rütschi)

Mit dieser Situation konfrontiert, versucht Bundesrat Didier Burkhalter, dieses institutionelle Abkommen unter Dach und Fach zu bringen, um anschliessend die letzten, noch ausstehenden bilateralen Abkommen zum Abschluss zu bringen und die Erneuerung der bereits getroffenen Abkommen sicherzustellen. Sein Vorschlag hat den Vorteil, dass er zukunftsgerichtet ist; auf der anderen Seite ist er aber auch sehr zweischneidig: Ursprünglich wurde der bilaterale Weg eingeschlagen, um die Souveränität zu bewahren, nun geht es aber genau in die entgegengesetzte Richtung – man muss die Souveränität opfern, um auf dem bilateralen Weg weitergehen zu können. Gewandt wahrt Didier Burkhalter dabei die Form: Die Schweiz soll von Fall zu Fall entscheiden können, ob sie die Urteile des Gerichtshof akzeptiert. Bei einer Zurückweisung eines Urteils allerdings müsste die Schweiz mit politischen Sanktionen rechnen. Im Klartext: Wenn die Verhandlungen zu einem Abschluss kommen, würde die Schweiz damit gleichsam durch die Hintertür die Integration in die Europäische Union erreichen.

Dieses Vorgehen, unsere Anbindung an Europa sicherzustellen, ist hoch paradox: Die Schweiz würde ein institutionelles Abkommen unterzeichnen und gleichzeitig dessen katastrophale Auswirkungen auf die letzten Reste der Souveränität kaschieren. Der herrschende Diskurs würde noch widersprüchlicher werden und noch weniger nachvollziehbar: Man muss die Integration in Europa vollziehen und dabei um jeden Preis verhindern, tatsächlich zu Europa zu gehören, denn aus unserer Sicht schadet uns Europa. Der Meinungspegel lässt befürchten, dass das Volk diesen Spagat eines Tages nicht mehr sehen will. Als logische Folge wäre ein Nein an der Urne anlässlich einer kommenden Europaabstimmung nicht auszuschliessen.

Die Debatte in der Schweiz ist in mancher Hinsicht surreal geworden: Während die Schweiz das europäische Recht in weitesten Teilen übernimmt (ohne an dessen Ausgestaltung beteiligt zu sein), brechen die Nationalisten eine Kampagne vom Zaun, welche das Menetekel eines drohenden Verlusts der Souveränität an die Wand malt. Gleichzeitig wird die Debatte von den Mitte-Rechts-Parteien unterlaufen, welche die Bevölkerung mit der Aussage zu beruhigen versuchen, es seien gerade die bilateralen Abkommen, welche die Autonomie der Schweiz bewahren würden. Um den etwas aus der Mode geratenen Gegenpositionen wieder Leben einzuhauchen, verfolgen die beiden Lager eine gemeinsames Strategie: tunlichst nicht darauf einzugehen, dass die Souveränität bereits verloren ist. Das heisst aber auch, die besondere Eigenschaft des bilateralen Wegs zu negieren: nämlich die Tatsache, dass sich der Wunsch, sich Europa umfassend anzuschliessen, ohne den Handlungsspielraum zu verlieren, mit dessen Realisierung in Luft aufgelöst hat.

Die Position eines Teils der Linken in dieser Debatte ist nicht weniger erstaunlich: In ihren Augen wird die Europäische Union immer stärker zu einem neoliberalen Ungetüm, das die Errungenschaften der «sozialistischen Eidgenossenschaft» (eines Staates, der – wie alle wissen – seit Jahrzehnten einen beispielhaften Sozialismus in die Tat umgesetzt hat) in Gefahr bringt. Der Umstand, dass die Schweiz in äusserst vielen Bereichen die Speerspitze des Liberalismus ist, scheint diese Kreise nicht zu erschüttern. Auch nicht der Umstand, dass es für das Infragestellen der liberalen Politik, die in der Schweiz zum Tragen kommt, zuerst ein Infragestellen ebendieser Politik in ganz Europa bräuchte. Und ebenso wenig die Feststellung, dass es die Europäische Union ist, welche die Mutter aller Schlachten gegen die neoliberale Politik führt, nämlich die Schlacht gegen das Steuerdumping – eine Kunst, welche die Schweiz zur Vollendung gebracht hat.

Bei der Linken vergisst man allzu rasch, dass es gerade die Annäherung an die Europäische Union war, die eine Modernisierung des Arbeitsmarktes in der Schweiz ermöglichte, indem den skandalösen Ausbeutungsfällen, dem Lohndumping, der Schwarzarbeit, der unwürdigen Behandlung der Saisonniers etc. ein Riegel geschoben wurde. Es war der konsequenten und unnachgiebigen Haltung der Gewerkschaften zu verdanken – die ihrerseits das europäische Momentum nutzten – , dass diese Modernisierung unter der Bezeichnung «flankierende Massnahmen» über die Bühne gebracht werden konnte. Übrigens: Falls die erste Tranche von bilateralen Abkommen aufgekündigt werden sollte, sieht eine rechtliche Klausel vor, dass die gesamten Massnahmen zum Schutz des Arbeitsmarktes auf einen Schlag hinfällig würden.

Als Demokrat konsterniert mich die Leere dieser schweiz-schweizerischen Debatte. Demokratische Souveränität zeigt sich darin, dass Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, selbst politische Entscheidungen zu fällen, die sie betreffen, oder Behörden zu wählen, an die sie diese Entschei­dungen delegieren. Wie um alles in der Welt kann sich die Schweiz, die sich gerne als die beste aller Demokratien bezeichnet, damit begnügen, das europäische Recht, an dessen Ausgestaltung sie nicht beteiligt war, unilateral anzuwenden? Keinem einzigen Schweizer Kanton würde es je einfallen, keine Abgeordneten in die eidgenössischen Räte zu entsenden, sich nicht an eidgenössischen Abstimmungen zu beteiligen oder nicht an interkantonalen Konferenzen teilzunehmen. Das ist aber genau das, was die Eidgenossenschaft in Bezug auf Europa macht.

Genau betrachtet, sind unter dem Gesichtspunkt der Souveränität nur zwei Positionen vertretbar:

  • Man kündigt die bilateralen Abkommen, um eine materielle und formelle Souveränität wiederherzustellen. Die Schweiz würde sich damit in eine «splendid isolation» begeben, die sie wirtschaftlich womöglich teuer zu stehen käme und ihr vielleicht nicht so viel Autonomie gewähren würde, wie manche meinen. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Wenn keine rechtlichen Strukturen (wie z. B. jene der Union) zur Anwendung kommen, dann sind es schlicht und ergreifend die Stärkeverhältnisse, die entscheiden – und ob da die Vorteile auf Seiten der kleinen Schweiz lägen, darf bezweifelt werden.
  • Oder man tritt der Europäischen Union bei, um Vertreter in die Europäische Kommission, in den Ministerrat, in das Europäische Parlament und in den Gerichtshof entsenden zu können. Mit dem Einsitz in den Instanzen würde die Schweiz ihre verlorene Souveränität wiedergewinnen. In diesem Szenario könnte der Bund, der verschiedene Kulturen pflegt und vertritt, durchaus mehr Gewicht erlangen, als ihm arithmetisch eigentlich zustünde.

 Es ist schwierig vorherzusagen, wann die europäische Debatte auf die wirklich wichtigen Fragen einschwenken wird. Die ersten Anzeichen machen sich bereits bemerkbar: Neben dem «pädagogischen» Effekt, den die von Didier Burkhalter geführten Verhandlungen mit sich bringen, gab es in der Herbstsession einen weiteren Hinweis darauf, dass sich die tektonischen Platten verschieben: Der Nationalrat hat mit einer komfortablen Mehrheit mein Postulat angenommen, das forderte, eine Bilanz zu erstellen über die Auswirkungen der bilateralen Verträge auf die Souveränität und gleichzeitig darzulegen, welche Schritte der Bundesrat zu unternehmen gedenke, um das Schicksal der Schweiz wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Erstaunlicherweise wurde der klar pro-europäische Wortlaut von der SVP gestützt. Wobei diese Partei natürlich ein anderes Ziel verfolgt als ich: Sie hofft, der Bundesrat werde schwarz auf weiss den Schaden belegen, den die Europa-Integration der Schweiz in ihren Augen angerichtet hat.

Damit hat die SVP erstmals eingeräumt, dass die Souveränität bereits verloren ist: Die Schweiz ist de facto so etwas wie ein Mitglied der Europäischen Union ohne Stimmrecht. Aus Sicht der SVP müsste eigentlich die Aufkündigung unserer ca. 120 bilateralen Abkommen mit der EU gefordert werden, um «unsere wahre Souveränität» wiederzufinden. Nur dass sie das aus wirtschaftlichen Gründen nicht öffentlich zu sagen wagt.

Wenn wir es schaffen, uns nach und nach aus der gegenwärtigen Blockade zu befreien, wird die Frage eines Beitritts die Chance bieten, die verlorene Souveränität zurückzuerobern, indem wir mit allen Rechten ausgestattet an den europäischen Entscheidungen teilhaben. Diese Sicht der Dinge setzt eine völlige Umgestaltung der offiziellen Debatte voraus. Einerseits geht es darum, die gegenwärtigen Abhängigkeiten klar darzustellen. Andererseits muss der weit fortgeschrittene Grad der Integration, den die Schweiz bereits erreicht hat, herausgestrichen werden; ebenso der wichtige Beitrag, den das europäische Konstrukt für die Schweiz leistet, sowie die gemeinsam von der EU und der Schweiz geteilten Werte. Und schliesslich muss anerkannt werden, dass die Schweiz, solange sie nicht ein vollwertiges, mit allen Rechten ausgestattetes Mitglied ist, ihre Interessen in Europa nicht vollumfänglich verteidigen kann. Die Gegner einer solchen Politik können natürlich konkrete Aspekte einer Europa-Integration ins Feld führen, wie etwa Spannungen auf dem Arbeitsmarkt. Sie werden aber nichts ausrichten können gegen die Diskussion rund um die Rückeroberung der Souveränität. Das einzige, was sie sagen können, ist: Man muss die Brücke zu Europa, die mit den ca. 120 bilateralen Abkommen geschlagen wurde, abbrechen. Und dieses isolationistische Abenteuer ist weder glaubwürdig noch mehrheitsfähig.

Eine Unbekannte bleibt: Wagt es der Bundesrat, diese Klärung vorzunehmen, oder wartet er gelähmt ab, bis der bilaterale Weg an der Urne Schiffbruch erleidet?

 

 

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