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Roger Nordmann

Conseiller national

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Artikel - 15. Dezember 2009

Grundrechte und Demokratie sind siamesische Zwillinge

Die Diskussion rund um die Minarettinitiative zeigt, dass das Verhältnis zwischen Grundrechten und Demokratie in der schweizerischen Öffentlichkeit ziemlich konfus ist. Nur so lässt sich erklären, dass diese beiden zusammengehörenden Begriffe gegeneinander ausgespielt werden.

Erstens muss daran erinnert werden, dass die Legitimation und die Rechtfertigung der Demokratie auf den Grundrechten beruht. In unserem Zusammenhang sind deren zwei besonders wichtig: einerseits das Recht jeder Bürgerin und jedes Bürgers, das politische Geschehen mitzubestimmen, andrerseits das Prinzip der Rechtsgleichheit, wonach jede Person das Recht auf den gleichen politischen Einfluss hat: „eine Stimme pro Person“ („one man one vote“).

Zweitens kann eine Demokratie ohne die Beachtung diverser Grundrechte nicht korrekt funktionieren. Besonders wichtig sind die Meinungsäusserungsfreiheit, die Pressefreiheit und die politische Freiheit. Doch eigentlich bedarf die Demokratie der Durchsetzung beinahe aller Grundrechte: das Recht auf die Menschenwürde, die allgemeine Freiheit, das Recht auf Grundschulunterricht, das Diskriminierungsverbot usw. Wie könnte eine Demokratie gut funktionieren, wenn nicht frei debattiert werden kann, wenn gewisse Personen die politische Diskussion nicht verstehen bzw. entziffern können oder wenn auf der Strasse politische Gewalt herrscht? Ohne die Möglichkeit zur Ausübung der Grundrechte verkommt die Demokratie zur Farce. Das war im ehemaligen Ostblock klar ersichtlich.

Die Demokratie darf nicht ihr eigenes Fundament zerstören.

Demokratie leitet sich also aus den Grundrechten ab und braucht diese, um zu funktionieren. Deshalb ist es systemwidrig, wenn die Demokratie dazu benützt wird, die Grundrechte gewisser Personen oder Bevölkerungskreise willkürlich zu beschränken. Das würde heissen, dass die Demokratie anfängt, ihr eigenes Fundament zu untergraben. Gerade dies ist leider mit der Annahme der Minarettinitiative geschehen. Denn die Religionsfreiheit ist auch ein Grundrecht, das übrigens nicht weit weg von der Meinungsäusserungsfreiheit angesiedelt ist. Zudem ist dieser Verfassungsabsatz klar diskriminierend für muslimische Mitbürger: warum sollen die Türme Ihrer Religionen verboten sein, nicht aber diejenigen anderer Religionen?

Dabei muss eines präzisiert werden: Grundrechte dürfen durchaus eingeschränkt werden und zwar zum Zweck, Grundrechte von Drittpersonen oder ein öffentliches Interesse zu schützen. Nur der Kern der Grundrechte, wie das Folterverbot oder das Recht auf Menschenwürde darf gar nicht angetastet werden. Das Verbot der üblen Nachrede (Verleumdung) ist ein Beispiel einer zulässigen Einschränkung eines Grundrechtes: es engt die Meinungsäusserungsfreiheit zwar ein. Diese Einengung ist aber gerechtfertigt, um das Recht auf Würde anderer Menschen zu schützen.

Es ist durchaus möglich, den Bau eines konkreten Minaretts im Einzelfall zu verbieten, zum Beispiel weil es gemäss Zonenplanung nicht ins Ortsbild passt; hier gibt es eindeutig ein öffentliches Interesse. Der Staat darf jedoch nicht allgemein den Bau von Minaretten einfach verbieten, weil die Minarette einer Mehrheit „ nicht ins Konzept passen“. Genau wie es skandalös ist, den Bau von Kirchen generell zu verbieten, wie es in gewissen Ländern der Fall ist.

Es ist klar: Grundrechte und Demokratie sind siamesische Zwillinge. Sie bedingen einander und sind untrennbar. Greift man eines der beiden Konzepte an, so ist das andere auch verletzt. Das gilt ebenso für die direktdemokratischen Elemente, die Volksrechte, welche Teile unserer Demokratie sind. Die direkte Demokratie ist ein empfindliches System, welches die Grundrechte besonders braucht, da sie hohe Anforderungen an die Bürger stellt. Ohne eine strikte Durchsetzung der Grundrechte kann die direkte Demokratie nicht funktionieren. Daher ist es ein Widerspruch in sich, mit dem Werkzeugkasten der direkten Demokratie die Grundrechte anzugreifen. Solche Versuche dürfen nicht toleriert werden.

Ist Volkssouveränität absolut?

Die Notwendigkeit der strikten Beachtung der Grundrechte in der direkten Demokratie ist auch unter einem anderen Blickwinkel klar ersichtlich: die direkte Demokratie selbst ist ein Machtinstrument, und als solches nicht automatisch gegen Machtmissbrauch gefeit.

Niemand möchte zu den Zeiten des Absolutismus zurück, als Ludwig XIV. in Frankreich sagen konnte „l’Etat c’est moi“ und die absolute Alleinherrschaft beanspruchte. Insbesondere wollen wir nicht, dass die Machthaber die Grundrechte des Einzelnen missachten.

Seit dem Absolutismus wurden im Staat viele Leitplanken eingebaut, damit die politische Macht nicht absolut gehandhabt werden kann. Die sogenannte „Check und balances“ (Kontrolle und Gegengewichte), die regelmässigen Wahlen, die Einhaltung einer Verfassung und die Gewaltentrennung in Exekutive, Legislative und Gerichte habe alle zum Zweck, die exzessive Machtballungen zu vermeiden. Alle schränken die Macht des Staates und der demokratisch gewählten Mandatsträger ein. Zu Recht.

In der Schweiz werden die Instrumente der direkten Demokratie, Referendum und Initiative, meistens als eine weitere Leitplanke gegen exzessive staatliche Macht verstanden. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Wenn das Volk per Initiative oder Referendum die gewählten Behörden zur Seite stellt und selber die Macht ausübt, wird das Volk selber zum Herrscher. Das ist die Kehrseite der Medaille. Mit anderen Worten: die viel zitierte Volkssouveränität ist nicht nur eine Souveränität der Mehrheit des Volkes, sondern auch die Souveränität über die ganze Bevölkerung. Hier bedarf es auch Leitplanken: beim Ausüben der Volkssouveränität soll das Volk die Grundrechte respektieren. Dazu braucht es Kontrollmechanismen, genau wie die Macht des Bundesrates oder des Parlament durch die Verfassung eingeschränkt ist. Die direkte Demokratie darf keinesfalls zu einer Diktatur der Mehrheit werden, die sich über die Grundrechte der Minderheit hinwegsetzt.

In unserem föderalistischem Staat bestehen Schutzmechanismen für die sprachlichen und regionalen Minderheiten. So etwa die Anforderung des Ständemehrs und die Einrichtung des Ständerates, die den kleinen Kantonen einen überproportionalen Einfluss sichern. Diese Regeln bilden eine notwendige Beschränkung der Macht der Mehrheit. (Sie weichen übrigens ein bisschen vom Prinzip „eine Person eine Stimme“ ab. So hat ein Appenzeller Stimmbürger in der Berechnung des Ständemehrs mehr Macht als ein Zürcher.) Eine gut austarierte Demokratie schützt also auch die Minderheiten. Darin soll der Schutz der religiösen Minderheiten und ihre Gleichberechtigung inbegriffen sein.

Um das zu erreichen wäre der Einbau eines institutionellen Schutzmechanismus angebracht. Volksinitiativen, welche die Grundrechte unterminieren, dürfen gar nicht zur Abstimmung gelangen. Um die direkte Demokratie aufrechtzuerhalten darf sie nicht gegen sich selbst gerichtet werden.

 

  

 

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