Grundrechte und Demokratie sind
siamesische Zwillinge
Die Diskussion rund um die Minarettinitiative zeigt, dass das
Verhältnis zwischen Grundrechten und Demokratie in der
schweizerischen Öffentlichkeit ziemlich konfus ist. Nur so lässt
sich erklären, dass diese beiden zusammengehörenden Begriffe
gegeneinander ausgespielt werden.
Erstens muss daran erinnert werden, dass die Legitimation und die
Rechtfertigung der Demokratie auf den Grundrechten beruht. In
unserem Zusammenhang sind deren zwei besonders wichtig: einerseits
das Recht jeder Bürgerin und jedes Bürgers, das politische Geschehen
mitzubestimmen, andrerseits das Prinzip der Rechtsgleichheit, wonach
jede Person das Recht auf den gleichen politischen Einfluss hat: „eine
Stimme pro Person“ („one man one vote“).
Zweitens kann eine Demokratie ohne die Beachtung diverser
Grundrechte nicht korrekt funktionieren. Besonders wichtig sind die
Meinungsäusserungsfreiheit, die Pressefreiheit und die politische
Freiheit. Doch eigentlich bedarf die Demokratie der Durchsetzung
beinahe aller Grundrechte: das Recht auf die Menschenwürde, die
allgemeine Freiheit, das Recht auf Grundschulunterricht, das
Diskriminierungsverbot usw. Wie könnte eine Demokratie gut
funktionieren, wenn nicht frei debattiert werden kann, wenn gewisse
Personen die politische Diskussion nicht verstehen bzw. entziffern
können oder wenn auf der Strasse politische Gewalt herrscht? Ohne
die Möglichkeit zur Ausübung der Grundrechte verkommt die Demokratie
zur Farce. Das war im ehemaligen Ostblock klar ersichtlich.
Die Demokratie darf nicht ihr eigenes Fundament zerstören.
Demokratie leitet sich also aus den Grundrechten ab und braucht
diese, um zu funktionieren. Deshalb ist es systemwidrig, wenn die
Demokratie dazu benützt wird, die Grundrechte gewisser Personen oder
Bevölkerungskreise willkürlich zu beschränken. Das würde heissen,
dass die Demokratie anfängt, ihr eigenes Fundament zu untergraben.
Gerade dies ist leider mit der Annahme der Minarettinitiative
geschehen. Denn die Religionsfreiheit ist auch ein Grundrecht, das
übrigens nicht weit weg von der Meinungsäusserungsfreiheit
angesiedelt ist. Zudem ist dieser Verfassungsabsatz klar
diskriminierend für muslimische Mitbürger: warum sollen die Türme
Ihrer Religionen verboten sein, nicht aber diejenigen anderer
Religionen?
Dabei muss eines präzisiert werden: Grundrechte dürfen durchaus
eingeschränkt werden und zwar zum Zweck, Grundrechte von
Drittpersonen oder ein öffentliches Interesse zu schützen. Nur der
Kern der Grundrechte, wie das Folterverbot oder das Recht auf
Menschenwürde darf gar nicht angetastet werden. Das Verbot der üblen
Nachrede (Verleumdung) ist ein Beispiel einer zulässigen
Einschränkung eines Grundrechtes: es engt die
Meinungsäusserungsfreiheit zwar ein. Diese Einengung ist aber
gerechtfertigt, um das Recht auf Würde anderer Menschen zu schützen.
Es ist durchaus möglich, den Bau eines konkreten Minaretts im
Einzelfall zu verbieten, zum Beispiel weil es gemäss Zonenplanung
nicht ins Ortsbild passt; hier gibt es eindeutig ein öffentliches
Interesse. Der Staat darf jedoch nicht allgemein den Bau von
Minaretten einfach verbieten, weil die Minarette einer Mehrheit „
nicht ins Konzept passen“. Genau wie es skandalös ist, den Bau von
Kirchen generell zu verbieten, wie es in gewissen Ländern der Fall
ist.
Es ist klar: Grundrechte und Demokratie sind siamesische Zwillinge.
Sie bedingen einander und sind untrennbar. Greift man eines der
beiden Konzepte an, so ist das andere auch verletzt. Das gilt ebenso
für die direktdemokratischen Elemente, die Volksrechte, welche Teile
unserer Demokratie sind. Die direkte Demokratie ist ein
empfindliches System, welches die Grundrechte besonders braucht, da
sie hohe Anforderungen an die Bürger stellt. Ohne eine strikte
Durchsetzung der Grundrechte kann die direkte Demokratie nicht
funktionieren. Daher ist es ein Widerspruch in sich, mit dem
Werkzeugkasten der direkten Demokratie die Grundrechte anzugreifen.
Solche Versuche dürfen nicht toleriert werden.
Ist Volkssouveränität absolut?
Die Notwendigkeit der strikten Beachtung der Grundrechte in der
direkten Demokratie ist auch unter einem anderen Blickwinkel klar
ersichtlich: die direkte Demokratie selbst ist ein Machtinstrument,
und als solches nicht automatisch gegen Machtmissbrauch gefeit.
Niemand möchte zu den Zeiten des Absolutismus zurück, als Ludwig
XIV. in Frankreich sagen konnte „l’Etat c’est moi“ und die absolute
Alleinherrschaft beanspruchte. Insbesondere wollen wir nicht, dass
die Machthaber die Grundrechte des Einzelnen missachten.
Seit dem Absolutismus wurden im Staat viele Leitplanken eingebaut,
damit die politische Macht nicht absolut gehandhabt werden kann. Die
sogenannte „Check und balances“ (Kontrolle und Gegengewichte), die
regelmässigen Wahlen, die Einhaltung einer Verfassung und die
Gewaltentrennung in Exekutive, Legislative und Gerichte habe alle
zum Zweck, die exzessive Machtballungen zu vermeiden. Alle schränken
die Macht des Staates und der demokratisch gewählten Mandatsträger
ein. Zu Recht.
In der Schweiz werden die Instrumente der direkten Demokratie,
Referendum und Initiative, meistens als eine weitere Leitplanke
gegen exzessive staatliche Macht verstanden. Das ist aber nur die
eine Seite der Medaille. Wenn das Volk per Initiative oder
Referendum die gewählten Behörden zur Seite stellt und selber die
Macht ausübt, wird das Volk selber zum Herrscher. Das ist die
Kehrseite der Medaille. Mit anderen Worten: die viel zitierte
Volkssouveränität ist nicht nur eine Souveränität der Mehrheit des
Volkes, sondern auch die Souveränität über die ganze Bevölkerung.
Hier bedarf es auch Leitplanken: beim Ausüben der Volkssouveränität
soll das Volk die Grundrechte respektieren. Dazu braucht es
Kontrollmechanismen, genau wie die Macht des Bundesrates oder des
Parlament durch die Verfassung eingeschränkt ist. Die direkte
Demokratie darf keinesfalls zu einer Diktatur der Mehrheit werden,
die sich über die Grundrechte der Minderheit hinwegsetzt.
In unserem föderalistischem Staat bestehen Schutzmechanismen für die
sprachlichen und regionalen Minderheiten. So etwa die Anforderung
des Ständemehrs und die Einrichtung des Ständerates, die den kleinen
Kantonen einen überproportionalen Einfluss sichern. Diese Regeln
bilden eine notwendige Beschränkung der Macht der Mehrheit. (Sie
weichen übrigens ein bisschen vom Prinzip „eine Person eine Stimme“
ab. So hat ein Appenzeller Stimmbürger in der Berechnung des
Ständemehrs mehr Macht als ein Zürcher.) Eine gut austarierte
Demokratie schützt also auch die Minderheiten. Darin soll der Schutz
der religiösen Minderheiten und ihre Gleichberechtigung inbegriffen
sein.
Um das zu erreichen wäre der Einbau eines institutionellen
Schutzmechanismus angebracht. Volksinitiativen, welche die
Grundrechte unterminieren, dürfen gar nicht zur Abstimmung gelangen.
Um die direkte Demokratie aufrechtzuerhalten darf sie nicht gegen
sich selbst gerichtet werden.